Annie Ernaux: Die leeren Schränke

Annie Ernaux Die leeren Schränke Cover Suhrkamp Verlag

Erstmals in deutscher Sprache: Das aufwühlende Debüt „Die leeren Schränke“ der französischen Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux

Die Literaturnobelpreisträgerin des letzten Jahres ist in der Normandie geboren und in einfachen Verhältnissen aufgewachsen. Dem Arbeitmilieu und damit einem vorgezeichneten Leben in Armut und Not ist sie vor allem durch Bildung entkommen. Literatur, Philosophie und Kunst sind ihre Anker, ihre Hoffnungsschimmer und ihr Motor. In ihrer eigenen Arbeit stellt sich Ernaux ihrer Herkunft. Sie ist durchzogen von der Suche nach der Sprache, die das Leben ihres Geburtsmilieus beschreibt, ohne es vorzuführen. Meist aus der Ich-Perspektive erzählt sie in einfachen Sätzen, schonungslos und ungeschult von ihrem eigenen Leben sowie dem ihrer Mitmenschen – und macht damit die meist unsichtbaren Grenzen zwischen Oben und unten, zwischen Hoffnung und Verzweiflung oder zwischen Arm und Reich sichtbar.

Zwischen sexuellen Verboten und erotischen Fantasien

Annie Ernaux Die leeren Schränke Cover Suhrkamp Verlag

Im Suhrkamp Verlag erscheint nun ihr Debüt-Roman. Fast 50 Jahre nach seiner Erstveröffentlichung in Frankreich. Annie Ernaux schreibt hier noch nicht aus der Ich-Perspektive, sondern wählt eine Denise als Protagonistin ihrer Erstlings, wenngleich autobiografische Züge verarbeitet werden. Die Handlung ist schnell erzählt: Die 20-jährige Denise Lesur ist schwanger und wird von ihrem wohlhabenden Freund sitzengelassen. Da Abtreibungen zu dieser Zeit (1961) illegal sind, vertraut sie ihr Schicksal einer älteren Geburtshelferin an. Unter Schmerzen sitzt Denise in ihrem Zimmer und wartet auf den Verlauf der Schwangerschaftsunterbrechung. Die in streng katholischem Umfeld aufgewachsene Denise fühlt sich zerrissen zwischen sexuellen Verboten und erotischen Fantasien. Sie hegt eine tiefe Abneigung gegen die Gesellschaft, die heuchlerischen gesellschaftlichen Normen, die Bigotterie der Kirche und die intellektuell aufgeblähte Scheinwelt der Akademiker.

Die Wut der Annie Ernaux

Ernaux rechnet hier knallhart ab. In einer Sprache, die schmerzt und mit einer Wut, die ohnmächtig macht. Einmal lässt sie ihre Protagonistin sagen: „Ich kotze auf sie, auf die Kultur, auf alles, was ich gelernt habe. Von allen Seiten gefickt.“ 30 Jahre später greift sie das Thema ihrer Abtreibung in „Das Ereignis“ noch einmal auf. Da dann reflektierter, reifer, mit besser verheilten Wunden und klareren Blick. Hier aber schreibt sie eine Anklage. Die Kraft ihrer Worte ist bestürzend und gleichzeitig befreiend. Die Scham über die eigene Herkunft und ihrer Gepflogenheiten ist gleichzeitig der Antrieb zur literarischen Höchstleistung. Nur mit diesem starken Gefühl kann solch ein Text entstehen. Wer „Die leeren schränke“ nicht gelesen hat, kennt Annie Ernaux nicht. Hier hat alles angefangen. Atemberaubend gut.

Annie Ernaux: „Die leeren Schränke“, Suhrkamp Verlag, aus dem Französischem von Sonja Finck, Hardcover, 218 Seiten, 978-3-518-22549-3, 23 Euro. (Beitragsbild: Buchcover)

Kommentar schreiben